Parkinsontag-2022

Eine Augenärztin in Erlangen, behandelt einen Glaukom-Patienten mit einem Herzmedikament aus Berlin und heilt, ohne es zu ahnen, die long-COVID Symptome des Mannes.

In einem Onlineforum wird das Für und Wieder einer neue entdeckten Möglichkeit der Parkinson-Frühdiagnostik diskutiert, und 80% der Diskussionsteilnehmerinnen sprechen sich gegen deren Anwendung aus.

Gäbe es heute begründete Aussicht auf ein Heilmittel für etliche, nicht motorische, Symptome der Parkinson-Krankheit – was würde passieren. Wie würden wir mit dieser neuen Realität umgehen?

Die folgende Geschichte aus dem Jahre 2012 versetzt uns in eine solche Situation. Sie ist ein literarischer Vorgriff auf das schon oft in Aussicht gestellte. Sind wir, ist die Gesellschaft, auf einen solchen Ernstfall vorbereitet?

Jürgen Hoffmann
(1943-2021)

Glorreicher Montag
Eine Medical Fiction

An diesem glorreichen Montag, dem Super-Jahrhundert-Montag, so stelle ich mir vor, komme ich wie gewohnt noch gerade eben rechtzeitig, obwohl mein Weg zum Club der kürzeste von allen ist. Alle sitzen sie schon in Appetenz-Haltung am großen Tisch, haben aber wohl noch nicht regelrecht angefangen.
Claudia steht an ihrem Platz, die Stuhllehne umklammernd, Silvia verteilt noch Wassergläser, so dass ich, ohne recht zu stören, mich an den seit Jahren gewohnten Platz an der Südwestecke der weißen Wüste werde drücken können, da sehe ich – und staune, dass Claudia in ungewohnter Weise ihr kleines Schwarzes angetan hat und, anders als sonst, angespannt darauf wartet, dass am Tisch Ruhe einkehrt.
Die Ruhe entsteht. „Aus bestimmten Gründen“, sagt Claudia, Ingo nickt haarlos, sie macht alles richtig bisher, die Claudi, eröffnet sie formell die Mai-Versammlung der Parkinson-Selbsthilfegruppe U40.
Claudia hat was zu sagen, sagt sie, und spricht folgendes:

„Liebe Brüder und Schwestern in Parkinson! Ich habe die umwerfende Mitteilung zu machen, und bin sogar von Neuss, wo der Häuptling aller Parkinsons wohnt, zu der Mitteilung per E-Mail autorisiert, euch wird das Lachen gleich vergehen, hier ist die E-Mail“,

sie schwenkt das Blatt Papier über ihrem von der Krankheit niedergebeugten Kopf,

„und ich möchte auch ohne Umschweife gleich mit der Tür ins Haus fallen, die Jahrhundert-Mitteilung also, dass es der Forschung gelungen ist, ein wirksames Mittel gegen den verursachenden Faktor der Krankheit zu finden.

Hier sind drei eng beschriebene Seiten zur Erläuterung der wichtigen Neuigkeit, die wir uns anschließend vornehmen können. Zunächst einmal ganz einfach gesagt:

Parkinson ist heilbar ab Datum von vorgestern. Unser Leiden hat ein Ende, egal, wie ausgeprägt es war. Wir werden alle wieder gesund!
Diese Aussicht finde ich so bewegend, dass ich mich der Tränen nicht erwehren kann. Ich bitte um einen Moment Schnaufpause! Schmalz- und Schniefpause! Hier ist der Sekt! Kalle, könntest Du bitte mal die Flasche öffnen? Die Nachricht muss mit einem Tropfen gefeiert und begossen sein. Immerhin betrifft die Neuigkeit ungefähr 250.000 Patienten in Deutschland, wie wir es sind.“

 
„Wir müssen auch wissen,
dass die Neuigkeit einen ganzen Sektor der Pharmaindustrie und der Gesundheitswirtschaft mit unzähligen Arbeitsplätzen und fetten Pfründen, ganze Segmente der Industrie, des Handels, der Forschung etc. aus den Puschen stößt, massenhaft bescheidene Existenzen von einfachen Familien kippt –

‚wat den einen sin uhl, is den annern sin nachtigal, sägt man‘. Ich denke, die Entdecker und Erfinder des Stoffes, der unser schlechtes Leben beenden kann, haben sich in wohlverstandenem eigenem Interesse hinreichend munitioniert und massiv bewaffnet, um sich gegen Angriffe verteidigen zu können und ihre Errungenschaft wissenschaftlich und medizinpolitisch voranzubringen. Manche werden durch die uns beglückende Substanz ihren Arbeitsplatz einbüßen.

Die werden wir mal zum Essen einladen. Nein, ohne Hohn, denen können wir nur tröstend sagen: ‚Ihr seid jedenfalls bei Gesundheit! Die neue Entwicklung wird neue Arbeitsplätze erzeugen. Wir hoffen, dass ihr davon profitieren werdet!

Aber wir, Freunde, Brüder und Schwestern, wir sind erst mal aus der Schusslinie! Das Leben ist lebenswert! Lasst uns die Gläser heben und jenen Erfindern danken, die unsere Glücksbringer werden sollen!“

Aber als ich später wie an jedem dieser Montage aus dem Club nach Hause schlich, hatte ich zwei, drei Glas Mineralwasser intus, keinen Sekt. Ich fragte mich nicht mehr, warum wir alle immer wieder, wenn der erste Montag im Monat anstand, uns zu den Sitzungen des Clubs einstellten.
Dort geschah nie etwas Weltbewegendes wie etwa Claudias gloriose Botschaft. Es wurde halt geredet, mühsam genug, oft schwer zu verstehen, weil viele von uns Schwierigkeiten mit der Artikulation haben und Laute von sich geben wie nasse Feudel. Aber alle versuchen zu verstehen, denn jener dort, der da am fernsten Ende der weißen Einöde Lebenszeichen von sich gibt, ist krank wie du selbst auch krank bist oder einmal sein wirst,

GOTT BEHÜTE.

Wir alle kommen wegen einer verhohlenen Erwartung. Ein Aufbegehren, finaler Trotz, gemeinsame Hoffnung verbindet uns, so unterschiedlich wir auch als Individuen, als Hervorbringungen der Klassenlage, als Kreaturen sein mögen. Es ist die Hoffnung auf Heilung, und das ist die Maximallösung unserer Probleme. Die maximale Hoffnung sprechen wir weder an noch aus, da wir uns nicht lächerlich machen wollen.

Wir füllen unsere gemeinsame Zeit, indem wir uns gegenseitig die Befindlichkeitsstörungen schildern, an denen wir laborieren, die Beschwerden, Belastungen, Unfälle, Schmerzen auf dem Weg in die Grube, um einander zu beraten und zu trösten. Das hilft ein bisschen, da sonst nichts hilft, und gibt ein bisschen Kraft für den unvermeidlichen Kampf, in den uns die Krankheit verwickelt. Zuweilen stellt sich die Frage, was uns überhaupt motiviert, irgendwas zu tun. Warum lassen wir uns nicht einfach wegsacken, da doch alles vergebens ist?

Wir sollten, um nicht ohne Gegenwehr unterzugehen, unsere klammheimliche Hoffnung pflegen und hätscheln, sie gezielter und bewusster am Leben erhalten. Jedenfalls könnten wir uns Klarheit verschaffen über unsere Lage.

‚Was tun?‘, fragte schon Lenin. Hier eine mögliche Antwort:
Unsere Selbsthilfegruppe sollte ein Projekt auflegen, in dem wir herauszukriegen versuchen, wie der aktuelle Forschungsstand in Sachen Parkinson ist. Leitfrage dabei: Können wir darauf hoffen, dass während unserer Lebzeiten noch neue Erkenntnisse zu bewältigen sind, die den Parkinson-Kranken das Leben erleichtern würden?

Wir sollten uns nicht begnügen mit der Behandlung der ins Auge fallenden, zuweilen äußerst störenden, um nicht zu sagen schier fertigmachenden Krankheitssymptome, sondern sollten  versuchen, unsere geringe Kraft, über die wir ja verfügen, aufgrund unserer freiwilligen, primär motivierten Zusammenballung im Club beharrlich, arbeitsteilig und mit einer soliden Perspektive einzubringen, um jene wichtige Untersuchungsfrage einer Beantwortung zuzuführen.

Diese Antwort müssen wir nicht morgen vorlegen,  sondern erst demnächst. Aber die gemeinsame Arbeit würde unserer Gruppe eine solide Seele einziehen.


Als wir im Dezember 2019 mit unserem kleinen Projekt parkinsonberlin.de starteten, konnte das Thema Impulskontrollstörung den größten Zulauf verzeichnen. Jede/r Anwesende hatte zu diesem Thema etwas zu berichten. Unter den Beteiligten, einer nicht repräsentativen Menge von mit Agonisten Behandelten, fand sich niemand, die/der sich an ein, wie auch immer geartetes Aufklärungsgespräch erinnern konnte.

Im Sommer des Jahres 2020 überraschte der Autor und Parkinson-Patient Matthias Dege mit seinem Buch „Das Dopamin Dilemma“ nicht nur die Betroffenen. Auch Teile der Ärzteschaft sahen sich gegenseitig ratlos an – und schwiegen.
Dege schreibt in seinem Buch unter:

3.1 Beratungspflicht: von der „(Nicht-)Wahrnehmung der Aufklärungs- und Beratungspflicht“ und einem Verstoß gegen „rechtliche Normen und Intentionen des Berufsgelöbnisses“. Mutig.

Zum Glück haben zwischenzeitlich alle Beteiligten eine gangbare Lösung gefunden. Die Ärzte klären in Praxen und Kliniken die Patienten umfänglich über mögliche Nebenwirkungen von Dopamin-Agonisten auf. Und im Gegenzug überlassen sie es diesen, auf der Bühne der Öffentlichkeit, authentisch und kompetent über die Folgen von Impulskontrollstörungen zu sprechen.

Musste der Pionier der Aufklärung über selbst erlittene Impulskontrollstörungen 2021 noch auf familienbegleiteten Beistand setzen,
so durfte Frank Elstner kürzlich seinen behandelnden Arztes ins Studio mitbringen, um die Zuschauer warnend und mahnend über Impulskontrollstörungen aufzuklären.

Ist das schon das neue „Arzt-Patienten Verhältnis auf Augenhöhe“, von dem man so viel ließt? Wie auch immer, es scheint Konsens zu herrschen. Viel höher jedoch ist die Tatsache zu bewerten, das es funktioniert. Man traut uns Patienten zu, in einer so zentralen Angelegenheit das Richtige zu sagen.


„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Jens Spahn


Seitdem long-COVID viral ging, droht jedoch neues Ungemach, denn – die Immunglobuline kehren zurück. Alte Positionen werden faktenbasiert konterkariert, es ist gar vom „Sündenfall CFS“ die Rede. Das Potential dafür hat dieses Thema. Vielleicht gelingt es diesmal, schnell und lautlos das Kind beim Namen zu nennen und zu ME/CFS auch ME/CFS zu sagen. Einfach so, weil es sich richtig anfühlt.

Ihre Patienten danken es ihnen, und wir werden sie mal zum Essen einladen.