Direktion wird Agora – gut, dass das jetzt passiert
Am Donnertag, den 11. September 2025 lud die YUVEDO Foundation zum „Tag der Gehirngesundheit & Parkinson” ein. Das mit reichlich morbidem Charme beschenkte Direktorenhaus der Alten Münze Berlin, war zum dritten Mal in diesem Jahr der hauptstädtische Mittelpunkt der Parkinson-Community.
Was diese Veranstaltung von allen anderen zum Thema Parkinson unterschied, war die Tatsache, dass sie von Parkinson-Erkrankten organisiert wurde. Man könnte einwenden, dass sich der Vorstand der YUVEDO Foundation fast ausschließlich aus Parkinson-Erkrankten zusammensetzt. Bei oberflächlicher Betrachtung fallen dem Leser eventuell noch die Doktorentitel auf. Ärzte sind die Einladenden jedoch nicht.
Dr. Karenfort, Vorstand der Stiftung und Anwalt des Jahres 2025, der offenbar noch mitten im Berufsleben steht, führte mit warmen und parkinsonbedingt leisen Worten durch die Veranstaltung.
Im Verlauf nahm Dr. Radelof, Direktor Innovation der Foundation, nach 17 Jahren sichtbar von der Krankheit gezeichnet, allein vor dem Auditorium Platz. Er stellte den Anwesenden drei Fragen und wurde dabei spontan von einem extra aus Lörrach angereisten Doktor der Ökonomie, der ebenfalls an Parkinson erkrankt ist, inhaltlich unterstützt.
Das Spannungsverhältnis in der Parkinson-Diagnose zeigt sich deutlich im Zusammenwirken von Vortrag und Diskussion.
Im Kontext der Ursachenforschung wurde die Entstehung der Erkrankung vielfach als „multifaktoriell“ beschrieben – eine Einschätzung, die nicht nur den fachlichen Standpunkt der Referenten, sondern vor allem deren persönliches Erleben widerspiegelt.
Die Leitlinie selbst bleibt hier zurückhaltend: Sie benennt genetische und umweltbedingte Risikofaktoren sowie pathophysiologische Prozesse, ohne sie jedoch zu einem kohärenten Gesamtmodell zu verbinden. Damit bleibt die naheliegende Annahme offen, dass die Symptome wahrscheinlich mehrere Ursachen haben.
Gerade weil eine Behandlung stets leitlinienkonform erfolgen muss, treten im Alltag immer wieder Lücken zutage – zwischen dem, was erhofft wird, und dem, was Patienten tatsächlich erleben. Vor diesem Hintergrund wurde die berechtigte Frage gestellt, wie eine „Ein-Wirkstoff-Therapie“ dem breiten Spektrum der Symptome überhaupt gerecht werden kann.
Im Gegensatz zu den nachfolgenden kurzen Podiumsdiskussionen wirkten die Wortmeldungen spontan, teils emotional – und ließen für aufmerksame Beobachter einen Paradigmenwechsel erkennen.
Seit Jahrzehnten laufen solche Veranstaltungen nach dem „bewährten“ Muster:
Der Arzt hält einen Vortrag – die Zuhörer dürfen anschließend zwei, drei Fragen stellen.
Oder: Der Arzt hält einen Vortrag, stellt dem Publikum zwei, drei Fragen – und liefert die Antworten schneller als jemand überhaupt Luft holen kann.
Die Sache mit den Narrativen
Der Paradigmenwechsel zeigt sich nun darin, dass die einladenden Patienten selbst sowohl Vortragende als auch Fragende sind. Dadurch entstehen völlig andere Fragen – gespeist aus Erfahrung und erlittener Realität. Und genau damit geraten die befragten Mediziner in Schwierigkeiten: Sie können nicht mehr ihre bekannten Narrative bedienen, sondern müssen sich den erlebten Problemen und echten Fragen stellen.
Der gerne zur Schau gestellte Schulterschluss zwischen behandelndem Arzt und informierten Patienten wirkt im ersten Moment wie ein verheißungsvolles Zeichen von Partnerschaft. Doch schon nach wenigen Fragen zeigt sich die eigentliche Dynamik: Der Patient bringt in diesem Setting seine Fragen und Erfahrungen ein – und bleibt unverstanden. Der Arzt hingegen verharrt in der Parallelwelt seines Narrativs, fühlt sich überrumpelt und missverstanden. Was zunächst wie ein Dialog erscheint, entpuppt sich als Fata Morgana.
Ein etwas älteres Dokument soll das Thema Narrative veranschaulichen. In diesem Video vom April 2024
ab Minute 12:20, (Muster: Arzt fragt – Arzt antwortet gleich selber) versteigt sich der Vortragende zu folgender kühnen Behauptung:
Zitat: „Nahrungsergänzungsmittel haben keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf„
Die Aussage „Nahrungsergänzungsmittel haben keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf“ hier wirksam als Totschlagargument eingesetzt, ist juristisch korrekt – zumindest aus Sicht der aktuellen Leitlinien.
Evidenz statt Empathie?
Diese stützt sich auf den Grundsatz der evidenzbasierten Medizin: Nur das, was in randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) und systematischen Reviews belastbar gezeigt werden konnte, gilt als wirksam.
Doch genau hier liegt das Problem:
Es gibt bislang kaum Studien zum Thema Nahrungsergänzungsmittel.
Und die wenigen vorhandenen Untersuchungen konnten für kein Präparat einen konsistenten Nutzen nachweisen:
Vitamine, Coenzym Q10, Antioxidanzien, Omega-3, Cannabis, Akupunktur, etc. werden in den Leitlinien nicht empfohlen, da keine ausreichende Evidenz vorliegt.
Besonders häufig erwähnt:
Vitamin E → „kein Nutzen, nicht empfohlen“.
Coenzym Q10 → „keine Wirkung, nicht empfohlen“.
Cannabispräparate → „keine Evidenz für motorische Symptome“.
Nahrungsergänzungsmittel werden also auf die gleiche Ebene gestellt wie experimentelle Therapien ohne Wirksamkeitsbeleg.
Erschwerend kommt hinzu, dass Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel (NEM) in einen Topf geworfen werden. Würde man Vitamine und NEM getrennt betrachten, wäre die Aussage „Vitamine haben keinen Einfluss auf den Krankheitsverlauf” bei der Betrachtung der Wirksamkeit der Vitaminen B12, B9 und B6 nicht haltbar.
Leitlinien folgen strikt dem Prinzip:
Keine Evidenz = kein therapeutischer Effekt.
Doch die Gleichsetzung von „keine Evidenz“ mit „kein Effekt“ ist problematisch.
Denn „kein Nachweis“ bedeutet nicht automatisch „keine Wirkung“, sondern lediglich, dass nach den strengen Kriterien der evidenzbasierten Medizin bislang kein Nachweis erbracht wurde. Viele potenziell wirksame Ansätze – gerade im Bereich der Nahrungsergänzung – sind schlicht nie systematisch untersucht worden.
Hinzu kommt eine innere Widersprüchlichkeit: Auch die etablierten leitliniengerechten Therapien – von Levodopa über Dopaminagonisten bis hin zur Tiefenhirnstimulation – besitzen bis heute keinen Nachweis einer Krankheitsmodifikation. Sie lindern Symptome, aber sie verändern den Verlauf der Erkrankung nicht.
Damit wird deutlich: Der Anspruch auf „Evidenz“ grenzt nicht nur aus, er setzt auch enge Grenzen. Was Patientinnen und Patienten real erleben, spüren und berichten, fällt aus diesem Raster heraus – ungeachtet der Tatsache, dass es für sie von höchster Relevanz ist.
Brücke: Von evidenzbasiert zu Erfahrungsevidenz
Leitlinien irren nicht: Ohne belastbare Studien gibt es keine gesicherte Evidenz. Aber daraus folgt nicht, dass Erfahrungen bedeutungslos wären.
Erfahrungsevidenz meint das, was Patientinnen und Patienten tatsächlich erleben: spürbare Verbesserungen, alltagsnahe Effekte, echte Veränderungen im Leben – unabhängig von RCTs und Metaanalysen. So entstehen zwei Ebenen, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen:
evidenzbasiert = was in Studien nachweisbar ist.
erfahrungsevident = was im Alltag unverkennbar wirkt.
Die Botschaft aus dem Direktorenhaus:
Evidenzbasiertes schafft Sicherheit – Erfahrungsevidenz schafft Wirklichkeit.

Dr. Radelof, Bildmitte, Dr. Karenfort, 09.11.2025, Direktorenhaus, Münze Berlin